Robert Domes

Autor Journalist Ausbilder

Waggon vierter Klasse

Ein Flüchtlingsmädchen der Nachkriegszeit kämpft gegen das Schweigen

Sommer 1948: Die 16-jährige Martha ist ein Flüchtlingsmädchen aus Ostpreußen. Sie lebt mit ihrem Vater in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon am Rande eines bayerischen Dorfes. Sie fühlt sich von den Einheimischen ausgegrenzt. Und sie hat das Gefühl, dass ein Geist in dem Waggon umgeht.
Um den Waggon ranken sich Gerüchte, vor allem um seinen früheren Bewohner Alois Roth. Der Mann ist in der Nazizeit spurlos verschwunden. Als Martha eine versteckte Kiste mit Habseligkeiten dieses Mannes im Waggon findet, wird sie neugierig und beginnt nachzufragen. Was war Alois Roth für ein Mensch? Warum lebte er in dem einsamen Waggon? Aber im Ort möchte niemand darüber sprechen. Es gibt Dinge, die sollte man besser ruhen lassen, heißt es nur. Doch Martha lässt nicht locker und bringt nach und nach die Geschichte von Alois Roth ans Licht.
Er war ein Gastwirtssohn aus dem Dorf, ein pfiffiger Kerl, der niemand etwas zuleide tat. Er arbeitete wenig, trank gerne und geriet auf die schiefe Bahn, landete immer wieder wegen Kleindelikten im Gefängnis. Dennoch war er im Dorf wohlgelitten. Damit machten die Nazis Schluss. Für sie war er ein »Volksschädling«. Sie warteten nur auf eine Gelegenheit, Alois endgültig loszuwerden.
Während ihrer Nachforschungen wird Martha auch mit den eigenen Erfahrungen von Krieg und Vertreibung konfrontiert. Sie muss sich ihren Alpträumen und Ängsten stellen. Und während sie in der Wunde des Dorfes bohrt, taucht plötzlich das Gerücht auf, ihr eigener Vater sei bei der SS gewesen.

Hintergrund: Der Roman beruht auf wahren Geschichten und gründlichen Recherchen. Er handelt von Kriegstrauma und Verdrängen der Gräuel, von der Frage nach Schuld und der Suche nach Wahrheit, vor allem aber von der Unfähigkeit zu sprechen und zu trauern. Er legt das Brennglas auf einen zentralen Teil der deutschen Geschichte: Auf die »Niemandszeit« zwischen Diktatur und Demokratie. Symbol dafür ist ein alter Eisenbahnwaggon. Hier treffen die Lebenden auf die Toten.

Das Schicksal von Alois Roth zeigt, wie sich die Gesellschaft in der Nazizeit radikalisiert, wie Menschen, die als »asozial« gelten, verstoßen und schließlich dem Tod ausgeliefert werden. Auf der anderen Seite wird aus der Sicht der jungen Martha erzählt, wie schwierig es ist, als Flüchtling in einer neuen Heimat Fuß zu fassen – und wie ein Neubeginn am Ende doch gelingen kann.
Diese Geschichte ist exemplarisch für ganz Deutschland. Ausgrenzung und Verfolgung während des Dritten Reichs gab es an jedem Ort im Land, ebenso die mühsame Integration der Vertriebenen und die kollektive Verdrängung der NS-Verbrechen nach dem Krieg.

Die Geschichte hat nicht nur historische Bedeutung. Sie stellt zugleich höchst aktuelle Fragen: Wohin kann die Radikalisierung der Gesellschaft führen? Wie behandeln wir heute die Andersartigen und Fremden? Wie kann das Ankommen von Flüchtlingen und deren schwierige Integration gelingen? Nicht zuletzt: Wie gehen wir mit der Wahrheit um, was blenden wir aus, was glauben wir?

Unterrichtsmaterial zu "Waggon vierter Klasse"

Der Verlag hat zu "Waggon vierter Klasse" umfangreiches Material für den Unterricht erstellt. Dort gibt es Informationen zum Schicksal von Alois Roth, der hier auf dem Foto als Häftling in Auschwitz zu sehen ist, und seiner Leidensgenossen. Ebenso zu den Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg, zu denen die junge Hauptfigur Martha zählt. Außerdem bietet das Material vele Arbeitsblätter zu der Geschichte. Es ist abrufbar unter folgendem Link: WaggonvierterKlasse_Unterrichtsmaterial.pdf oder auf der Website des cbj Verlags.

 

 

Politischer Hintergrund

Gab es zur Zeit des Nationalsozialismus Menschen, die es verdienten in Konzentrationslagern zu leiden und zu sterben? Diese Frage beantwortete der Bundestag im Februar 2020 endlich klar mit "Nein!", als er beschloss, die von den Nazis als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" Verfolgten offiziell als Opfergruppe anzuerkennen. Robert Domes gibt einem dieser Opfer in seinem auf wahren Begebenheiten beruhenden Roman "Waggon vierter Klasse" eine Stimme. Ein wichtiger Beitrag zum Auftrag der Bundesregierung, diese Opfergruppen stärker in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und ihnen einen angemessenen Platz in der gesellschaftlichen Erinnerungskultur zu verschaffen.

Keine Opfergruppe musste so lange auf ihre Anerkennung warten wie die sogenannten "Asozialen" und "Berufsverbrecher". Der Frankfurter Sozialwissenschaftler und Didaktik-Professor Frank Nonnenmacher sorgte für eine späte Würdigung dieser Menschen. Er startete 2017 eine Petition  mit dem Ziel, diese Verfolgten des NS-Staates als Opfergruppe anzuerkennen. Nach mehreren Jahren mühseliger Kampagnenarbeit fand der Bundestag zu einem Beschluss:
"Für die Häftlinge endeten mit der Befreiung der Konzentrationslager die menschenverachtenden Qualen durch die Nationalsozialisten. Während in den darauffolgenden Jahren die gesellschaftliche Rehabilitation für eine Vielzahl von Opfern einsetzte, wurden die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten ausgeblendet. Der zivilisatorische Bruch durch die Aushebelung des Rechtsstaats bedeutete auch für sie Verfolgung, Verschleppung und Vernichtung in den Konzentrationslagern. Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält und ermordet. Diskriminierung und Stigmatisierung waren für die Opfergruppen mit dem „grünen“ und „schwarzen“ Winkel vor und nach der NS-Terrorherrschaft weiterhin an der Tagesordnung. „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ wurden lange nicht als Opfer des Nationalsozialismus erkannt."
(Aus dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Anerkennung der von den Nationalsozialisten als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" Verfolgten vom 22. Oktober 2019)

Mit der jetzigen, späten Anerkennung entsteht der Anspruch auf Entschädigung für die wenigen noch lebenden Opfer. Außerdem fordert der Bundestag aktiv dazu auf, diese Opfergruppe zukünftig "stärker in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und ihnen einen angemessenen Platz im staatlichen Erinnern zu verschaffen". Robert Domes‘ Roman ist ein wichtiger Beitrag dazu.